Seit einigen Monaten steht nun die lang erwartete ICD-11[1], eine Überarbeitung der Vorgängerversion ICD-10, vollständig zur Verfügung. Das Ziel von Klassifikationssystemen ist es, die korrekte Diagnosestellung zu verbessern und damit die Indikationsstellung und Durchführung evidenzbasierter Therapien und Versorgung zu gewährleisten. Die ICD (International Classification of Diseases) ist das Klassifikationssystem für psychische Störungen und somatische Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), während das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) das Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (APA) darstellt. Letztere liegt in der 5. Auflage bereits seit Mai 2013 vor. Lange ist man davon ausgegangen, dass sich die ICD-11 hinsichtlich der diagnostischen Kriterien für autistische Störungen nicht wesentlich von denen im DSM-5 unterscheiden würde, entsprechend wurde dies auch in wissenschaftlichen Publikationen kommuniziert. Die diagnostischen Kriterien und deren Ausformulierungen für Autismus wurden zwar im Vorfeld weitreichend diskutiert, jedoch erst mit dem Inkrafttreten am 01.01.2022 öffentlich zugänglich gemacht.

Was ist neu?

  1. Eine zentrale Neuerung betrifft die Einordnung autistischer Störungen unter die „Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung“ (DSM-5) bzw. den „neuronalen Entwicklungsstörungen (ICD-11, „neurodevelopmental disorders“). Zu diesen Gruppen zählen, neben der Autismus-Spektrum-Störung, die 1) Störungen der Intelligenzentwicklung, 2) Störungen der Sprach- und Sprechentwicklung, 3) Störungen der Lernentwicklung, 4) Entwicklungsstörung der motorischen Koordination, 5) Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und 6) stereotype Bewegungsstörungen. Die Eingruppierung der autistischen Störungen in die „neurodevelopmental disorders“ erfolgte, weil alle genannten Störungen häufig gemeinsam auftreten und viele Charakteristika teilen. Tic-Störungen, einschließlich des Tourette-Syndroms, wurden zwar bisher aufgrund des oft gemeinsamen Auftretens bei den Entwicklungsstörungen aufgelistet, ab jetzt aber bei den Erkrankungen des Nervensystems klassifiziert.
  2. In Übereinstimmung mit dem aktuellen Forschungsstand wird der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) als eigenständige Klassifikation aufgeführt. Die Unterscheidungen in acht differenzierbare Subgruppen (z.B. frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus), die noch im ICD-10 und DSM-5 enthalten waren, wurden aufgegeben und in einer einzigen Kategorie zusammengefasst. Dies steht im Einklang mit zahlreichen Untersuchungen, die zeigen, dass Unterscheidungen zwischen den Subgruppen zweifelhafte diagnostische Aussagekraft besitzen und eher quantitative als qualitative Unterschiede darstellen. Zusätzlich werden, analog zu DSM-5, im ICD-11 der Diagnose ASS nun verschiedene, sehr detailliert ausformulierte Subklassifikationen („specifiers“) hinsichtlich z.B. sprachlicher und kognitiver Fähigkeiten hinzugefügt, was der enormen Heterogenität der Störungen Rechnung trägt.
  3. Das Alter bei Beginn der Störung wird als “früh in der Entwicklung” beschrieben, das Kriterium “bis zum 3. Lebensjahr” entfällt.
  4. Die Komorbidität mit ADHS wird offiziell zugelassen.

Kritikpunkte

Ein Hauptkritikpunkt – und auch wesentlicher Unterschied zwischen DSM-5 und ICD-11 ist, dass die ICD-11 keine notwendige Anzahl von Kriterien für die Diagnose festlegt. Es werden lediglich Merkmale genannt („essential (required) features“), welche die Autismus-Spektrum-Störung kennzeichnen: Bei der Autismus-Spektrum-Störung zeigen sich „anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, sowie durch eine Reihe von eingeschränkten, sich wiederholenden und unflexiblen Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv sind. Der Beginn der Störung liegt in der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, aber die Symptome können sich auch erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten übersteigen (…)“[2]. Im DSM-5 wir dies ähnlich formuliert, jedoch gleichzeitig betont, dass wenn Belege für gute soziale und kommunikative Fertigkeiten in der Kindheit vorliegen, die Diagnose nicht vergeben werden darf. Dies wird im ICD- 11 nicht gefordert. Ferner müssen in beiden Klassifikationssystemen die Defizite persistierend und so schwerwiegend sein, dass sie zu Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, erzieherischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen und ein durchgängiges Merkmal der Funktionsweise der Person sein, das in allen Bereichen zu beobachten ist, um eine Diagnose zu rechtfertigen. Es werden dann im ICD-11 eine Reihe von „Manifestationen“ beschrieben, die vorliegen können („manifestations may include limitations in the following…“). Ob diese jedoch die Abgrenzung zu anderen psychischen und/oder Entwicklungsstörung schärfen, bleibt zweifelhaft.

Im DSM-5 werden die Kriterien quantitativ genauer operationalisiert. Es wird eine notwendige Anzahl an Auffälligkeiten im Bereich der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion sowie auch im Bereich der eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten genannt. So müssen im Bereich der sozialen Kommunikation zwingend sowohl 1. Defizite in der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit wie auch 2. Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten und 3. Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen vorhanden sein. Im Bereich der eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten ist festgelegt, dass mindestens zwei von 4 Merkmalen vorliegen müssen.

Zwar sind sowohl in der DSM-5 wie auch in der ICD 11 die Kriterien eher allgemein und unscharf formuliert, in der DSM-5 wird jedoch zumindest festgelegt, dass ein Mindestmaß an Merkmalen vorhanden sein muss. Im ICD-11 werden lediglich gefordert, dass Symptome aus jedem Bereich vorliegen müssen, dies wird jedoch nicht weiter spezifiziert. Wenn ausschließlich recht allgemeine Symptombeschreibungen in der diagnostischen Einschätzung verwendet werden und kein Mindestmaß an Auffälligkeiten gefordert wird, verringert dies die Spezifität der ASS-Diagnose in der Abgrenzung zu anderen Entwicklungs- und psychischen Störungen. In der Konsequenz bedeutet dies, dass bei unsachgemäßer und nicht-leitlinienkonformer Diagnostik (s.u.), die Differenzierung von anderen psychischen Problemen zur Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung nach ICD-11 deutlich erschwert wird und die Diagnose recht willkürlich vergeben werden könnte. Dieser Kritikpunkt trifft jedoch auch auf das DSM-5 zu. Langfristig besteht die Gefahr der zunehmenden „Bedeutungslosigkeit“ der Diagnose, da sie kaum mehr mit einer spezifischen Symptomatik und damit implizierten evidenzbasierten Therapieoption verknüpft wäre. Auch wäre zu befürchten, dass die sowieso schon nicht ausreichend vorhandenen Therapie- und Unterstützungsangebote nicht mehr denjenigen mit tatsächlichem Bedarf zukommen.

Positiv zu erwähnen sind die weiteren Erläuterungen hinsichtlich der Abgrenzung zur Normalität („boundary with normality (threshold)“) sowie auch die differentialdiagnostischen Abgrenzungen („boundaries with other disorders and conditions (differential diagnosis)“). Hier werden deutlich mehr abzugrenzende Störungen benannt als im DSM-5[3]. Fraglich bleibt jedoch, ob diese knappen Erläuterungen dazu beitragen, die ungenauen Kriterien und deren Unspezifität zu kompensieren. Bezüglich genannter Subklassifikationen, die natürlich nötig sind, um die nun zu einer Kategorie zusammengefassten vormals bestehenden verschiedenen autistischen Störungen weiter zu differenzieren, gibt es derzeit nur wenige oder gar keine Untersuchungen über den klinischen Nutzen dieser „specifiers“, oder darüber, ob es sich tatsächlich um die richtigen Spezifizierungen handelt. Die Konzeptualisierung einer einzigen Störung mit mehreren Subklassifikationen sollte daher vor allem Studien fördern, die die erhebliche Heterogenität der ASS sowohl zwischen verschiedenen Personen mit ASS als auch innerhalb derselben Person mit ASS über die Zeit untersuchen.

Zur Verbesserung der korrekten Diagnosestellung, Indikationsstellung und Durchführung evidenzbasierter Therapien und Versorgung empfiehlt die WGAS sich eng an den diagnostischen (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-018.html) und therapeutischen (https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-047.html) Leitlinien der AWMF zu orientieren. Sowohl hinsichtlich Diagnostik als auch Therapie wird hierbei ein sehr strukturiertes, kleinschrittiges, zielorientiertes und differenziertes Vorgehen empfohlen, welches sicher das Potential besitzt, die Versorgung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen zu verbessern und auch Klarheit im diagnostischen Prozess zu fördern. Aus Sicht der WGAS ist zu fordern, bei Diagnosestellung nach ICD-11 im Detail zu begründen, warum die Symptomatik nicht durch eine oder mehrere der genannten Differentialdiagnosen erklärt werden kann.

[1] https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f437815624

[2] Zitiert nach: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html;jsessionid=EDC9B18BAEEE44BA0E6328473207D3A0.internet282

[3] Genannt werden folgende Störungen mit deutlicher Überlappung zur Symptomatik der Autismus-Spektrum-Störung: Intellektuelle Beeinträchtigungen, Sprachstörungen, motorische Störungen, Aufmerksamkeitsstörungen, stereotype Bewegungsstörungen, Schizophrenie, schizotype Störung, soziale Angststörungen, selektiver Mutismus, Zwangsstörungen, Bindungsstörungen (reaktiv/enthemmt), restriktive Essstörungen, oppositionelle Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Tic-Störungen sowie Tourette Syndrom, sowie Überlappungen mit anderen medizinischen Störungen oder sekundären Syndromen

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Author: Admin2